Fernweh

Fernweh

20. November 2022 0 Von anna

Da saß sie nun. Aufgeregt. Kribbelig. Kurzatmig.

„Ich mache das wirklich“, dachte sie, „ganz wirklich.“

Nervös blickte sie zum zehnten Mal auf die Uhr und stellte sich erneut vor, was sie in wenigen Minuten tun würde. Sie wühlte in ihrer Handtasche und suchte nach etwas zum Festhalten. Ein Lippenstift, nein. Ein Kugelschreiber, nein. Eine Kastanie, perfekt. Hektisch knetete sie die braune Kugel in ihrer Hand bis ihre Bewegungen ruhiger wurden. Sie atmete tief ein und ganz langsam durch einen kleinen Spalt ihrer wunderschön geschwungenen roten Lippen wieder aus.

Sie war im Begriff, etwas ganz Verrücktes zu tun. Etwas, von dem sicher niemand erwarten würde, dass ausgerechnet sie es tun würde. Sie, die Tochter eines Strafverteidigers und einer Richterin, die in eine Familie hineingeboren war, die vor Werten und Normen nur so platzte.

Doch es war mehr als nur an der Zeit, endlich loszulegen. Etwas zu wagen und alles Bisherige abzuschütteln. Niemand hatte ihr je etwas zugetraut. Nicht einmal ihre eigenen Eltern. Immer hieß es nur: „Laura. Schätzchen. Liebes. Lass das lieber, das ist eine Nummer zu groß für dich. Mach lieber etwas, was du auch schaffen kannst.“

Wie ihr diese Worte zuwider waren. Wie sehr Laura es hasste, sie zu hören. Warum glaubte nur jeder, dass sie nichts auf die Beine stellen könnte, dass sie nichts schaffen könnte? Weil sie ein Mädchen war? Eine Frau?

Ihren Schulabschluss, das Abitur, hatte sie mit der Bestnote bestanden. Ihr Kunststudium ebenfalls. Sie war immer folgsam gewesen. Hatte ihre Eltern nie blamiert oder einen gefährlichen Lebensstil gepflegt.

Nur ein einziges Mal, Laura war gerade 18 geworden und mit der Schule fertig, hatte sie die Kontrolle verloren:

„Papa, bitte. Lass mich fahren. Es sind doch nur zwei Wochen“, sagte Laura und sah ihren Vater mit flehendem Blick an.

„In 14 Tagen kann eine Menge passieren, mein Kind. Ich habe da Mädchen in deinem Alter schon vor Gericht gesehen, da würde dir hören und sehen vergehen.“

„Das glaube ich dir, Papa“, erwiderte Laura. Sie wusste genau, es würde keinen Sinn machen, ihrem Vater zu widersprechen. Er kannte wirklich viele schlimme Biografien. Und die Fälle, von denen er nichts gehört hatte, waren bei Lauras Mutter über den Tisch gegangen. Die beste Strategie war also, Zustimmung und gute Argumente.

„Aber ich habe ja dich und Mama als Vorbild. Ihr habt mich in allem sehr gut auf das Leben und seine Gefahren vorbereitet. Und habt mich anschaulich und oft auch erschreckend detailliert über die Konsequenzen mancher Handlungen aufgeklärt.“ Liebevoll umarmte Laura ihren Vater.

„Ein gelungenes Plädoyer, meine Tochter“, lachte Lauras Vater und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. „Dann nichts wie los. Pack deine Sachen. Ich werde dich aber noch zu deiner Freundin fahren und kurz mit ihr und ihren Eltern sprechen.“

„Einspruch“, rief Laura und grinste.

„Abgelehnt“, rief Lauras Mutter vom Nebenzimmer, die die Unterhaltung natürlich verfolgt hatte, „ich helfe dir gleich beim Packen.“

Auch hier halfen keine Widerworte. Das wusste Laura. Sie würde es über sich ergehen lassen müssen und zur Not heimlich noch einmal umpacken, falls nötig.

„Vielen Dank, Mama.“

Am nächsten Tag saßen um 8:53 Uhr zwei 18-jährige junge Frauen glücklich in einem Zug nach Italien. Zehn Stunden würde die Fahrt dauern. Genug Zeit, um sich auf das erste Abenteuer ohne Eltern einzustimmen. Das gebuchte Hotel hatten die beiden schon längst storniert und stattdessen hatte Lauras Freundin Maya eine Liste mit Campingplätzen entlang der Adria dabei.

„Das wird so aufregend“, schwärmte Maya, „ich will zuerst an den Strand und im Meer baden. Und du?“

„Ich weiß nicht.“ Laura zuckte mit den Achseln. „Erstmal eine Unterkunft suchen vielleicht.“

Maya sah ihre Freundin mit hochgezogenen Augenbrauen an. „Nicht dein Ernst. Wir wollten doch eben genau nicht alles wie deine Eltern machen. Alles planen und organisieren. Wir wollten Spaß und Abenteuer und Aufregung und Sex.“ Maya grinste.

„Maya! Halt‘ den Mund. Der Schaffner guckt schon.“ Laura war es unangenehm, wenn Maya so zügellos und laut war. Im Grunde wäre sie gern genauso frei und unbekümmert wie ihre Freundin. Genau dies fiel ihr aber so endlos schwer. Denn während Maya von Abenteuern, Aufregung, Spaß und Sex schwärmte, dachte Laura an Risiko, Gefahr, Opfer und Leid. Kein Wunder, das wurde ihr schließlich 18 Jahre lang eingetrichtert. Wann immer ihr Vater eine Mandantin in ihrem Alter hatte, nutzte er diesen Fall, um seiner Tochter eine Lektion zu erteilen.

„Boa, Laura. Sei keine Spaßbremse. Wir passen doch aufeinander auf. Es wird toll, du wirst schon sehen. Und ich verspreche dir, du bist eine Andere, wenn wir wieder zurück sind.“ Maya grinste frech und schnitt dem Schaffner eine Fratze. Laura musste lachen.

„Du hast ja recht. Auf zu Abenteuer und Spaß“, rief Laura.

„Und Sex“, ergänzte Maya.

„Wir werden sehen“, lachte Laura.

„Ihre Fahrkarten bitte, meine Damen“, unterbrach der Schaffner das Gelächter und sah die beiden jungen Frauen streng an. Laura bekam sofort einen Kloß im Hals, schluckte schwer und überreichte schweigend ihr Ticket.

„Interessant. Nach Riccione soll es gehen?“, fragte er und sah dabei etwas freundlicher über den oberen Rand seiner Brille.

„Si, Signore. Naturalmente“, antwortete Maya keck und lachte. Laura nickte nur und lächelte verlegen.

„Das erste Mal ohne Eltern unterwegs, was?“

Laura nickte wieder.

„Na, dann wünsche ich viel Spaß und macht keine Dummheiten.“ Er stempelte beide Fahrscheine ab, gab sie den Frauen zurück und ging weiter ins nächste Abteil.

Stazione di Riccione / Bahnhof Riccione 18:55 Uhr

„Laura, Laura, wach auf! Sieh dir das an. Wir sind da“, rief Maya aufgeregt. „Wuuuuhuuuu, Abenteuer wir kommen!“

Langsam öffnete Laura ihre Augen und sah, wie Maya auf der Sitzbank stand und ihren Kopf durch das halbgeöffnete Zugfenster steckte. „Komm runter da, Maya. Du bleibst noch mit dem Kopf im Fenster stecken.“

Maya zog den Kopf zurück. „Typisch du. Denk doch mal nicht daran, was alles Schlimmes passieren könnte. Denk einfach mal gar nichts zur Abwechslung.“

Maya sprang von der Sitzbank und packte ihre Sachen zusammen. Sie schnappte sich ihre Reisetasche und stopfte alles Herumliegende hinein, während Laura ihr Hab und Gut fein säuberlich an den dafür vorgesehenen Platz in ihrer Tasche steckte. Genau dorthin, wo es auch vorher gewesen war.

So unterschiedlich die beiden Frauen auch wirkten, im Grunde ihrer Herzen tickten sie völlig gleich. Beide spürten diesen Drang nach Unabhängigkeit, nach Freiheit. Beide zog es hinaus in die Ferne. Weg vom Alltag. Weg von der Familie. Einfach weg von allem und hinein ins Leben. Unvorhersehbares ungeplant erleben, danach sehnten sie sich beide. Auch wenn Maya deutlich mehr Mut für das Abenteuer mitbrachte, wollte Laura es mindestens genauso sehr. Auch wenn es Laura mehr Überwindung kostete, sich auf diese Reise einzulassen, wollte sie nichts mehr als das. Und falls sie tatsächlich in Schwierigkeiten kommen sollten, gab es ja ihren Vater, der sie aus allem herausholen würde, da war sich Laura ganz sicher. Eine beruhigende Sicherheit wie sie Maya nicht hatte. Von ihrer Mutter würde sie nichts erwarten können. Außer vielleicht ein: „Habe ich dir ja gesagt. Wer mit dem Feuer spielt, muss damit rechnen, sich zu verbrennen. Sieh‘ zu, wie du da wieder alleine rauskommst.“

Dennoch war es Maya egal. Sie stürzte sich mit ihrer Freundin ins Abenteuer. Ohne einen Gedanken an Morgen zu verschwenden.

Als sie ihr Zelt auf dem Campingplatz aufgebaut und ihre Sachen verstaut hatten, hielt die beiden jungen Frauen nichts mehr. Sie wollten nur noch eins: Ab zur Strandpromenade und rein ins italienische Nachtleben. Die Luft war angenehm warm. Ein leichter Wind wehte durch ihre langen Haare und ließ die beiden erst einmal jeden Gedanken an zu Hause vergessen.

„Lass uns doch mal runter zum Strand gehen“, schlug Laura vor. Sie liebte das Meer und das Rauschen der Wellen.

„Ist gut. Ich hole uns nur schnell zwei Prosecco auf Eis. Zur Feier des Tages“, antwortete Maya und verschwand in der nächsten Bar.

Laura sah sich um. Überall liefen kleine Gruppen von jungen Leuten und alle lachten und waren gut drauf. Sie seufzte leise. Es fiel ihr schon immer schwer, sich fallen zu lassen. In Gegenwart von Jungs war es am schlimmsten. Als sie 14 war und ihr Busen immer deutlicher zum Vorschein kam, stieg das Interesse ihrer männlichen Klassenkameraden. Die Mädchen in ihrer Klasse beneideten sie um die Aufmerksamkeit und um ihre Oberweite. Doch Laura freute sich nicht darüber. Sie fand das alles nur peinlich, wurde bei jedem Wort darüber rot und damit schnell zur Außenseiterin. Bis Maya auftauchte und die Neue in ihrer Klasse wurde. Laura mochte dieses Mädchen mit dem wilden braunen Lockenkopf sofort. Auch Maya entdeckte die schüchterne Laura für sich. Die beiden wurden unzertrennlich. Und nun waren sie zusammen hier und machten Italien unsicher. Bei dem Gedanken daran musste Laura schmunzeln. Mit niemandem wäre Laura lieber hier.

„Süße, schau mal, was ich aufgetrieben habe“, rief Maya durch die Nacht. Laura drehte sich um und traute ihren Augen nicht. Da kam ihre Freundin mit einem riesigen Eimer in den Händen aus der Bar heraus.

„Was ist denn da drin?“, fragte Laura.

„Na was wohl, Süße. Schampus natürlich.“ Maya lachte.

„Bist du verrückt?“, fragte Laura ihre Freundin, „den können wir uns doch überhaupt nicht leisten.“

„Weiß ich doch. Deshalb sollten wir hier auch schnell verschwinden. Los, komm. Ab zum Strand.“ Maya lief los. Einen Augenblick später rannte Laura hinterher. In ihrem Kopf überschlugen sich die Gedanken. Hatte Maya die Flasche etwa gerade gestohlen?

Wenig später saßen die beiden im warmen weichen Sand. Das Rauschen der Wellen wirkte beruhigend auf Laura.

„Sag mal, Maya“, flüsterte Laura und fasste Maya, die gerade versuchte den Korken aus der Flasche zu bekommen, an die Schulter, „hast du den geklaut?“

„Was? Geklaut? Was denkst du denn von mir“, fragte Maya empört.

„Nicht so laut“, ermahnte Laura, „ich meine ja nur, der war doch bestimmt teuer und so viel Geld haben wir doch gar nicht.“

„Ach Süße, für dich ist mir nichts zu teuer“, zwinkerte Maya ihrer Freundin zu und gab ihr einen Kuss auf die Wange.

Laura wurde ganz warm. Plötzlich kribbelte alles. Vor allem in ihrem Bauch. Laura war verunsichert. Sie fühlte sich plötzlich ganz leicht und so unheimlich wohl. Es hätte keinen Ort gegeben, an dem sie lieber gewesen wäre, als hier, im warmen Sand neben Maya.

„Was ist los? Alles in Ordnung?“, fragte Maya und streckte ihr ein Glas Champagner entgegen. „Lass uns anstoßen. Unser erster gemeinsamer Urlaub, in dem noch jede Menge aufregende Sache passieren werden. Cheers.“

Laura nahm das Glas und prostete schweigend zurück. Sie leerte ihr Glas in einem Zug.

„Wow, du hast wohl Durst“, sagte Maya und schenkte direkt nach, „ich bin froh, dass du mit mir hier bist.“

„Ich auch“, sagte Laura und fühlte, wie sich die kribbelnde Wärme in ihrem ganzen Körper ausbreitete.

„Laura, ich muss dir etwas sagen.“ Maya sah ihre Freundin auf einmal sehr ernst an und kniff die Lippen zusammen. „Es gibt einen Grund, weshalb ich mit dir nach Italien wollte. Und ich meine jetzt nicht, um Urlaub zu machen und Abenteuer zu erleben. Endlich mal ohne die Alten.“ Maya lachte. „Sondern auch, weil ich…“

Weiter kam Maya nicht. Eh sie es sich versah, fand sie sich mit Laura in einem leidenschaftlichen Kuss wieder. Eng umschlungen vergaßen die beiden jungen Frauen einfach alles um sich herum.

Nach ein paar Minuten lösten sich ihre Lippen langsam voneinander. Tief blickten sie sich in die Augen und lächelten sich an. Es war Laura, die das Schweigen unterbrach. „Alles gut?“, fragte sie.

„Mehr als nur gut“, antwortete Maya und drehte sich mit einem leisen Seufzen zur Seite. Sie war schon lange in Laura verliebt, hatte aber nie etwas gesagt. Aus Angst vor Lauras strengen Eltern, aber auch wegen der ungewissen Reaktion ihrer Freundin. Maya musste Lachen.

„Was ist los?“, fragte Laura.

„Ich habe mich schon so lange gefragt, wie du reagieren würdest, wenn ich dich einfach mal küsse.“

Liebevoll sah Maya ihrer Freundin in die Augen. „Bleib mit mir hier. Lass uns hier gemeinsam ein Leben aufbauen. Ein paar Kontakte habe ich schon. Was meinst du?“

„Du meinst, hier in Italien bleien?“

Maya nickte.

„Direkt nach dem Urlaub?“

Maya nickte wieder.

„Ohne Abschied von Zuhause? Einfach alles zurückzulassen?“

Maya nickte. „Oder sich davon zu befreien“, ergänzte sie.

Laura senkte den Blick und Maya ahnte bereits, dass es dazu vermutlich nicht kommen würde.

„Denk‘ wenigsten darüber nach und am Ende des Urlaubs reden wir nochmal. Du musst es ja nicht sofort entscheiden. Lass‘ mich dir dieses wundervolle Land doch erstmal zeigen“, sagte Maya und küsste Laura zärtlich auf die Stirn.

Die nächsten Tage vergingen wie im Flug. Maya gab sich alle Mühe, damit Laura nicht an Zuhause dachte. Baden im Meer, Sightseeing und Shopping in Rom, abendliche Cocktails an der Strandpromenade, jede Menge gutes Essen und ein Gefühl von Freiheit, nachdem sich die beiden Frauen so gesehnt hatten.

Der letzte Tag des Urlaubs kam jedoch schnell. Tag 14 des geplanten Abenteuers brach an. Der Abreisetag.

Laura war früh aufgestanden und noch im Dunkeln zum Strand gelaufen. Verträumt sah sie der Sonne beim Aufgehen zu. Sie dachte an Maya und ihre noch junge Liebe. Sie dachte an ihre Eltern und deren alte unmoderne Vorstellungen von Partnerschaft und einfach allem. Es würde ihnen das Herz brechen. Ihre Tochter liebt eine Frau. Das würde nicht in ihr Verständnis von Moral passen. Sie wären schockiert und enttäuscht. Laura bekam Angst. Was, wenn ihre Eltern nichts mehr mit ihr zu tun haben wollten? Nein. Sie konnte das nicht machen, sie konnte nicht hierbleiben. Nicht so.

Allein fand sich Laura am Bahnhof wieder. Sie hatte sich heimlich ihre Sachen geschnappt und sich davongeschlichen, als Maya noch schlief. Sie hätte es Maya nicht ins Gesicht sagen können. Sie wäre geblieben und das nur, weil es Maya sonst verletzt hätte. Stattdessen hatte Laura einen langen Brief geschrieben und neben Mayas Schlafsack gelegt. Was blieb, war die Hoffnung, dass Maya sie verstehen würde.

Nun fand sich Laura nach all den Jahren auf dem Flughafen wieder und wühlte aufgeregt in ihrer Handtasche. Sie spielte mit der Kastanie, die in ihrer Hand immer wärmer wurde. Sie hatte sich entschieden. Sie und niemand sonst. Sie selbst hatte beschlossen, sich das Flugticket zu kaufen. Sie war es, die nun endlich ihre Zelte abbrach, um ihrem Herzen zu folgen. Sie wollte endlich so leben, wie sie sich fühlte. Alles loslassen, was sie immer wieder gebremst hatte. Leben und Lieben. Bedingungslos und ohne Kompromisse. Die Freiheit in der Ferne finden. Und hoffentlich auch ihre Liebe. Maya.

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