
Frieden bewahren
Als er am nächsten Morgen erwachte, spürte er zunächst nur die Kälte um sich herum. Kaum ein Grad über null konnte es sein. Er blickte umher. All seine Sachen waren noch da. Er fühlte sich allein. So sehr allein. Er schloss seine Augen, um ein Bild von ihr zu formen. Aber es gelang ihm nicht. So lange hatte er ihr Gesicht nicht gesehen, die Erinnerung war verblasst. Da fiel ihm der Wolf vom Abend zuvor wieder ein. Er öffnete seine Augen und begann das andere Ufer des Sees abzusuchen. Der Nebel der Nacht lag noch wie ein Schleier über dem noch immer gefrorenen See. Er sah nichts. Doch der Gedanke an das Tier ließ ihn aufstehen und sich in seine Stiefel zwängen. Seine Füße waren so kalt, dass er keinen Schmerz mehr verspürte. Langsam ging er am Ufer entlang, bis er genau an der Stelle angekommen war, an dem abends zuvor noch der Wolf zu ihm herübergesehen hatte. Und tatsächlich, da lag etwas zusammengerollt, kaum sichtbar zwischen zwei Sträuchern.
„Bist du das?“, fragte der Mann und fühlte dabei etwas, das ihm schon lange nicht erfüllt hatte. Er sorgte sich.
„Was ist mit dir?“, fragte er erneut.
Es blieb still. Das Fellknäuel zitterte und bewegte sich nur langsam. Trotz seines dichten Felles schien es zu frieren. Kränklich, ja fast dem Tode nahe schien es zu sein. Dieses auf die Entfernung so stattlich wirkende Tier, das er gestern noch vom anderen Seeufer aus fast vergöttert hatte.
„Du erinnerst mich an mich selbst“, sagte er und streichelte, ohne darüber nachzudenken das graue Fell.
Der Wolf ließ es geschehen. Scheinbar genoss er die Wärme der rauen Hände. Oder vielleicht hatte er auch einfach keine Kraft mehr, sich zu wehren.
Der Mann suchte in seinem Rucksack nach dem letzten Stück Brot, das er sich aufgehoben hatte. Hart, aber essbar. Er tröpfelte etwas Wasser aus seiner Feldflasche darauf, um es aufzuweichen und gab es dem Wolf. In diesem Moment entstand eine Verbindung, wie es nicht intensiver hätte sein können. Er half dem wilden Tier, ohne zu wissen, ob er selbst die nächste Nacht überdauern würde.
„Wir brauchen Hilfe“, sagte der Mann und strich dem Tier weiter über das weiche Fell, „wir schaffen es nicht allein.“
Entschlossen suchte er nach ein paar Ästen, die er mit seinem Seil zusammenband.
„Ich lass dich nicht allein“, sagte er und ächzte vor Anstrengung.
So viel Kraft hatte ihn seine Suche nach Frieden schon gekostet. Längst war er verzweifelt. Doch nun plötzlich fühlte er wieder Sinnhaftigkeit in seinem Dasein. Er sah das Tier, das Hilfe benötigte und allein er war im Stande zu helfen. Er musste es. Niemand sonst würde es tun. Und er baute dem Wolf eine Bahre aus Stöckern und Moos, wälzte das Tier darauf und schlang sich das Seil um die Hüften, um das Bündel zu ziehen. Scheinbar verstand das Tier, was der Mann vorhatte und ließ alles mit sich geschehen.
„Wir werden überleben“, sagte der Mann und verspürte ein wohliges Gefühl.
Er war nicht mehr allein. Er irrte nicht mehr länger scheinbar ziellos durch die Wildnis. Gemeinsam beschritten sie den schmalen Pfad durch das Wäldchen, bis sie vor einer Weggabelung standen. Der Mann sah sich zunächst die beiden Wege an und blickte dann auf seinen Begleiter. Der Wolf blickte ihm tief in die Augen. Noch einen Augenblick verharrten die beiden, bis der Mann mit festen Schritten den rechten Weg beschritt. Lächelnd und mit dem Gefühl, seinen Frieden gefunden zu haben.
Anmerkung der Autorin: Manchmal packt es uns und wir wissen einfach nicht, wie wir weitermachen sollen. Bei all den schrecklichen Dingen, die im Moment in der Welt geschehen. Krieg, Missgunst und Hass ersetzen plötzlich Menschlichkeit, Fürsorge und Liebe. Letztlich begeben wir uns wie der Mann in meiner Geschichte auf die Suche nach Frieden. Vielleicht zunächst für jemand anderen, dann für uns selbst oder vielleicht irren wir auch einfach nur so herum. Für mich hat sich beim Schreiben der Trilogie ganz deutlich gezeigt, was mir wichtig ist: Weitergehen. Weitersuchen. Und den Frieden bewahren.