
Frieden für wen?
Und dann sah er ihn. Ganz deutlich. Ihre Blicken trafen sich über die weite Eisfläche hinweg. Tief blickte das Tier in seine Augen und noch tiefer scheinbar bis in seine Seele hinein.
„Ein Wolf“, dachte er, „ganz sicher ein Wolf.“ Ein stattliches Tier mit dichtem grauen Fell. Nie zuvor hatte er einen Wolf gesehen. Gehört, jedoch nie das Glück einer Begegnung gehabt. Aber das war ein Wolf. Kein Haustier könnte sich so weit in die Wildnis verirren und entspannt am Ufer eines Sees stehen als hätte es nichts anderes in seinem Leben gesehen.
Und in diesem Moment wurde ihm die Sinnlosigkeit seiner Reise bewusst. Niemals würde er den Frieden finden. So sehr er auch suchte. Es würde nie ein Gefühl der Befriedigung, des Ankommens oder der Sicherheit geben. Für ihn nicht und auch nicht für irgendjemand. Wie sollte dies auch geschehen? Im Grunde war er doch wie dieser Wolf am anderen Ufer, nur nicht so schön. Aber ständig auf der Flucht. Ständig auf der Suche nach Schutz, nach Sicherheit. Allein getrieben durch das Verlangen nach Frieden.
„Frieden“, dachte er, „welch ein kleines Wort für solch eine wertvolle Bedeutung.“
Langsam ließ er sich am Ufer sinken, den Blick weiter auf das wilde Tier gerichtet, welches sich scheinbar nicht von der Stelle rühren wollte. Tief atmete er aus und sog die kalte Luft ganz bewusst tief in seine Lungen ein. Er verspürte Hunger, Durst, doch hatte er weder das Verlangen nach Brot noch nach Wasser. Er war hungrig und durstig nach etwas, was er schon so lange suchte und doch nicht im Stande war zu finden. Erschöpft und wütend zugleich saß er einfach nur da und wusste nicht mehr, warum er sich eigentlich auf den Weg gemacht hatte. Geschweige denn, wie lange dies eigentlich schon her war.
„Hast du Frieden?“, schrie er plötzlich, „Hast du deinen verdammten Frieden?“
Unbeeindruckt stand das Tier da und beobachtete jede Bewegung die der Mann machte. Das Tier schien genau zu wissen, dass von diesem Menschen keinerlei Gefahr ausging, dass dieser Mensch ganz andere Gefahren zu bewältigen hatte und ein Wolf in seiner Gegenwart keine Bedrohung darstellte, weil er sich nicht fürchtete.
Die Füße schmerzten in den schwarzen Stiefeln, die er lang nicht ausgezogen hatte aus Angst, weil er entweder aus dem Schlaf gerissen würde um zu flüchten oder eben einfach nicht mehr hineinpassen würde, da seine Füße vom Marsch durch die Pampa so strapaziert worden waren, dass sie direkt anschwellen würden und kaum noch in die Schuhe passen würden. Doch hier am Ufer des Sees, der ihm das direkte Weitergehen verdarb und ihn zu einem Umweg Zwang, wie er ihn schon so viele Male in Kauf nehmen musste, kam er noch mehr ins Grübeln. Waren es tatsächlich Umwege gewesen oder hatten die zusätzlichen Schritte ihn nicht letztlich doch bis hierhergebracht? Der Wolf am anderen Ufer stand nicht mehr da. Er hatte sich hingelegt, aber ließ keine Sekunde vom Blick auf den Mann ab. Ob Erschöpfung, Neugier oder einfach nur der Drang nach Gesellschaft ihn dazu trieben, vermochte er nicht einzuschätzen, aber er war froh, nicht allein zu sein. Es dämmerte bereits und seine Lust weiterzuziehen war fast verschwunden. Noch ein weiteres Mal legte er sich auf den feuchten, kalten Boden und schlief erschöpft ein. Sein letzter Blick galt dem Wolf am anderen Ufer, der im selben Moment seinen Kopf senkte, um zu schlafen.
Und wieder blickte sie aus dem Fenster und sah die Aschewolken, die bedrohlich näher kamen. Seinen Brief hatte sie längst verbrannt. Nicht weil sie wollte und die Hoffnung aufgegeben hatte, nein, weil er zu lange brauchte. Es dauerte zu lange. Zu lange war es her, dass er aufgebrochen war. Kein Zeichen des Erfolges. Die Hoffnung schwand. Frieden? Was für ein großes Wort und doch kein einzig kleiner Erfolg. Keine Nachricht.
„Ob er noch lebt“, fragte sie sich fast jeden Abend vor dem zu Bett gehen, „oder ob er noch an mich denkt?“
Das tat er nicht. Er konnte nicht. Er war fort.
Hallo Anna, deine Kurzgeschichten sind absolut spannend, mutig,mitreißend, top aktuelle Themen !!!! „Was knistert da“ – dein Buch, ich habe es heute schon 2x gelesen und freue mich auf eine Fortsetzung der Geschichten. liebe Grüße vom Sulzberg Martha
Liebe Martha. Herzlichen Dank für diese lieben Worte. Ich freue mich sehr, dass dir meine Geschichte gefallen.
Viele Grüße aus dem Harz,
Anna