
Hirsch Heinrich hat genug
Die Sonne schien und der Fraß war wieder einmal kalt. Gelangweilt trottete Hirsch Heinrich am Zaun seines Gatters entlang und hatte die Nase voll. Bald würden die ersten Kinder kommen und ihm wieder mit langen spitzen Dingern in die Nase piken. Er hasste es. Doch diese goldgelben fiesen Stecher, die die Menschen Spaghetti nannten, schmeckten einfach so gut, dass er es nicht lassen konnte, egal wie sehr er es auch wollte. Egal wie viel er zuvor gefressen hatte, nichts half, der Versuchung zu widerstehen. Doch irgendetwas war heute anders. Etwas in ihm war anders. Er hatte genug. Ein für alle Mal hatte er genug. Genug vom Fraß. Genug vom Piken in die Nase. Genug vom Warten. Ja, das Warten war ein Übel. Kaum schlug er in der Morgendämmerung die Augen auf, fing das Warten an. Immer war er der Erste, der wach wurde, er hasste es. Immer war er der Erste, der den Tierpfleger kommen hörte. Er hasste es. Und heute? Er wachte auf und hasste es.
Er wartete auf den Tierpfleger, aber der kam nicht. Hatte er die Tiere vergessen? Was war nur geschehen? Niemals zuvor war so etwas oder etwas Ähnliches geschehen. Täglich pünktlich kam der Fraß. Was war nur geschehen? Hirsch Heinrich hielt die Spannung kaum noch aus. Mit einigem Anlauf und reichlich Adrenalin im Blut sprang er über das Gatter und fühlte sich wie noch nie zuvor in seinem Leben. Begeistert und entsetzt zugleich über sein Verhalten wendete er seinen Blick ab vom ebenso heldenhaft wie leichtsinnig überwundenen Zaun hin zu der weiten wilden Welt, die nun nur auf ihn zu warten schien. „Auf geht’s, Heinrich sei kein Narr“, schrie es in ihm. „Lauf, Heinrich, lauf und sieh nicht zurück.“ Hastig eilte Heinrich los und wagte nicht, sich umzudrehen. Er wollte weg. Er musste weg. Kein Zurück. Kein Aufgeben. „Jetzt oder nie“, schoss es ihm durch den Kopf. „Kein Piken mehr, kein Fraß. Aber was kommt jetzt?“ Hirsch Heinrich blieb stehen und blickte sich um. Er hatte keine Ahnung, was er nun tun sollte. Warten musste er jedenfalls nicht mehr, aber was sollte er stattdessen machen? „Mir fällt schon was ein“, sagte er mit fester Stimme und verschwand im nahe gelegenen Wald.