
Zwerg Herix und das Mädchen
Es war einmal ein Zwerg, der liebte von Herzen ein Mädchen. Der Zwerg mit Namen Herix lebte im alten Diabas-Steinbruch in Wolfshagen. Er hatte sich dort schön eingerichtet und hatte das, was er am liebsten mochte. Seine Ruhe. Doch seit geraumer Zeit geriet sein kleines Herz immer wieder in Aufruhr. Bei einem Spaziergang über die Wolfshöhe hatte er das schönste und klügste Wesen gesehen, dass man sich vorstellen mag. Das junge Mädchen war kaum 18 Jahr und saß mit seinen Freundinnen auf einer großen Decke, um zu picknicken. Was lachten die Mädchen so schön und aßen Gebäck und tranken Tee. Selbst ein Zwerg konnte sich ihrer nicht verwehren.
Das schönste der Mädchen hieß Rosalie. Welch wundervoller Name fand der Zwerg. Ihr Antlitz war von solcher Schönheit und ihre Gestalt von solcher Anmut, dass es sogleich um des Zwergen Herz geschehen war. Keine andere als diese wollte Herix zur Frau. Allem Größenunterschied zum Trotze, diese sollte, nein, diese musste es sein. Rosalie sollte mit ihm im Steinbruch leben und über alle Tiere und Pflanzen herrschen.
„Was bildest du dir ein, du Zwerg“, entgegnete ihm der Luchs, als er von des Zwergen Schwärmerei erfuhr. „Mach dich nicht lächerlich. Eine Gestalt wie die deine. Eine Närrin wäre sie, sollte sie dich jemals lieben.“
Stolz ging der Luchs von dannen und ließ den Zwerg wütend zurück. Aber dem Luchs würde Herix schon zeigen, wer hier der Narr war.
„Du wirst schon sehen, du albernes Pinselohr“, schrie Herix ihm nach und drohte wütend mit der Faust, „du wirst es schon sehen.“
Fest entschlossen machte sich Herix auf zur Wolfshöhe. Er wollte dieses Mädchen für sich gewinnen. Er musste es. Sein Herz fühlte sich in ihrer Gegenwart so leicht an. Als könne er fliegen. Kein Zweifel, auch ihr müsse es so gehen, da war sich Herix sicher. Jedoch ergab es sich an diesem Tage, dass das Mädchen nicht wie sonst mit ihren Freundinnen zum Picknicken auf die Wiese gekommen war. Ungläubig starrte der Zwerg auf die große Decke, auf der sich zwei Gestalten in den Armen lagen. Zweifelsohne war dies seine Rosalie. Doch wer in drei Gottes Namen war da noch? Herix schlich sich heran, um besser sehen zu können und erschrak. Die Worte bleiben ihm im Halse stecken. Ein Jüngling von hoher Gestalt mit braunem Haar und wohl hundert Händen, mit denen er Rosalie festhielt, wie ein Kraken seinen Schatz im Meer. Herix flüchtete.
Wütend und verzweifelt tobte er zu Hause im Steinbruch. Stein um Stein zerschmetterte er. Schleuderte Felsen durch die Luft gegen eine Felswand, wo sie zersplitterten wie sein Herz.
„Genug“, hallte es plötzlich durch das Tal. „Genug Zwerg.“ Es war der Uhu. Nur selten erhob er das Wort. Doch wenn er es tat, hatte es majestätische Ausmaße. „Was willst du, Zwerg Herix?“, fragte der Uhu.
Herix sah ihn an und wusste kaum seine Worte zu sortieren. „Das Mädchen“, antwortete er schließlich.
„Und warum sollte dieser Wunsch erfüllt werden?“, fragte der Uhu. „Siehst du dein Werk? Siehst du, was du angerichtet hast mit deiner Wut?“
Erst jetzt bemerkte Herix, wie stark er gewütet hatte. Nur eine kleine Insel, auf der er stand, war übriggeblieben. Steile Abhänge rings um den Fels machten es unmöglich, das Plateau zu erreichen. Herix erschrak. „Das wollte ich nicht. Niemals“, sagte er.
„Dennoch ist es geschehen“, antwortete der Uhu. „Nun musst du mit dieser Tat leben. Einsam und ohne ein Mädchen.“ Der Uhu flog davon.
Herix blieb zurück und begann zu weinen. Nie und nimmer hatte er das gewollt. So sollte es nicht ausgehen. Doch hatte er diese Strafe verdient, glaubte er. Allein lebte er fortan auf dem Felsen mitten im Diabas-Steinbruch in Wolfshagen. Niemand sollte ihn je finden.
Bis eines Tages ein Mann und eine Frau ganz unverhofft die steile Wand erklommen und Herix Zwergenburg entdeckten. Was standen sie vor einem Rätsel, als sie dieses seltsame Gebilde aus Diabas entdeckten. Schlafend und schnarchend fanden sie den Zwerg in seinem Reich und glaubten ihren Augen nicht zu trauen. Das hatte Wolfshagen gerade noch gefehlt. Ein Zwerg im Steinbruch. Als Herix erwachte, glaubte er noch zu träumen, als er die beiden Gestalten sah, die ihn mit fragenden Augen anstarrten.
„Wer seid ihr?“, fragte er und gähnte aus vollem Leibe. „Was wollt ihr hier?“
„Den Steinbruch erkunden“, sagte der Mann. „Dich hatten wir hier nicht erwartet. Doch da wir dich schon gefunden haben, erzähl uns doch, weshalb du ihn dieser Einsamkeit hier lebst?“
Und Herix begann zu erzählen, da er die letzten hundert Jahre mit niemandem hatte erzählen können. Er berichtete von Rosalie und seiner Liebe zu dem wunderschönen Mädchen. Er ließ nichts aus. So gestand er auch. Dass er es war, der einst den Steinbruch zerstört hatte, weil er nicht wusste, wohin mit seiner Wut auf den jungen Burschen.
„Und nun?“, fragte die Frau. „Wie soll es nun für dich weitergehen?“
Herix zog die Schultern an die Ohren, ließ sie wieder sinken und kraulte sich den Rauschebart.
„Ihr könntet doch hier bei mir bleiben“, schlug er vor. „Ich kenne eine Menge Geschichten, die ich euch erzählen kann. Ich bin schließlich schon sehr alt.“
Der Mann und die Frau sahen sich an, nickten sich zu und blickten Herix tief in die Augen.
„Wenn du versprichst, nie mehr so wütend zu werden, dass du alles um dich herum zerstörst, so wollen wir dich mitnehmen und dir eine Aufgabe geben.“
„Herix bekam große Augen, er schnappte nach einem kleinen Fliegenpilz, um sich daran festzuhalten.
„Mehr muss ich nicht tun?“, fragte er. „So sei es.“
Gesagt, getan. Die beiden freundlichen Menschen nahmen den Zwerg behutsam mit in den Ort und gaben ihm neben einem liebevollen Zuhause auch eine wundervolle Aufgabe.
Fortan erzählt er den Kindern des Ortes wunderbare Märchen und erfreut sich an ihrem Lachen. Und Rosalie? Sie war vergessen. Du musst wissen: Nicht alles, was ein Zwerg haben will, muss er auch bekommen. Manchmal kann es sogar viel besser sein, sich mit dem zufriedenzugeben, was man bereits hat. Oder auf ein bisschen Glück zu warten. Irgendwann weckt es vielleicht auch dich aus dem Schlaf.