
Endlich frei
Es war der 14. Dezember 2015 in einem Winter, der seinem Namen keine Ehre machte. Kaum ein Grad unter null zeigte das Thermometer am frühen Morgen, als Claire die Flucht gelang. Leise wie eine Katze schlich sie auf ihren bunten Wollsocken aus dem dunklen Zimmer im Keller eines Hauses, das sie von außen noch nie gesehen hatte. Sie hatte beschlossen, sich nicht länger terrorisieren zu lassen und wegzugehen, einfach zu verschwinden. Am Körper trug sie nur eine Jeans mit aufgerissenen Knien, einen schmutzigen grauen Strickpullover, darunter ein rosa Hemdchen. Um ihren dünnen Hals baumelte ein hübscher bunter Schal mit roten Zotteln an allen Seiten.
Claire schlich in Richtung der hölzernen Kellertreppe, die ins Erdgeschoss führte. Kaum einen Millimeter gaben die Stufen unter ihrem Fliegengewicht nach, sodass ihr der Aufstieg nahezu geräuschlos gelang.
„Eins, zwei, drei, vier…“.
In Gedanken zählte sie die Stufen. Wie oft hatte sie das schon getan? Wie oft war sie bis zur obersten Stufe gekommen? Der 14. Stufe? Und wie oft drehte sie um und schlich leise zurück in das Zimmer im Keller? Zu groß die Angst vor dem „Draußen“. Zu groß die Furcht vor dem, was sie erwartete, wenn sie die Tür nach draußen öffnen würde. Zu viele Fragen in ihrem Kopf, auf die sie keine Antwort fand. Aber wieder zurück? Wieder aufgeben? Wieder im Loch sitzen und alles still ertragen?
„Nein“, flüstert Claire. „Heute ist Schluss damit. Ein für alle Mal.“
Mutig und zaghaft öffnete sie die Tür zum Erdgeschoss einen Spalt breit. Claire sah den Ausgang. Nur wenige Meter noch, dann wäre sie frei. Mit geballten Fäusten und finsterer Miene stieß Claire die Kellertür auf.
24 Stunden später.
Immer wieder ließ das kleine Mädchen ihre Puppe ins Wasser platschen und holte sie wieder heraus. Kichernd schüttelte sie das Spielzeug.
Eine Weile saß Claire einfach nur da und starrte das kleine Wesen an. So glücklich und zufrieden wollte sie werden. So unbeschwert. Das muss doch zu schaffen sein. Irgendwie. Auch ohne Anweisung, Demütigung und Strafe. Nur wo sollte sie beginnen? Wie stellte sie es am besten an? Nach all der Zeit im Dunkeln. Nach all der Zeit ohne Sinn und vielen Qualen.
Den ersten Schritt hatte sie gewagt. Der Bann war gebrochen, die Fesseln durchtrennt. Niemand würde jemals nach ihr suchen, dafür hatte sie gesorgt.
„Mach es richtig oder lass es gleich bleiben“, hatte er ihr schmerzhaft eingebläut.
Claire ging langsam auf das kleine Mädchen zu. Plötzlich hielt es inne in seinem Spiel und betrachtete mit großen Augen die scheinbar verwahrloste Frau.
„Ist das Blut oder Farbe auf deinem Schal?“, fragte das Mädchen und biss sich nervös auf die Unterlippe. Claire stutzte.
„Blut.“
„Deins?“
Claire wunderte sich über die Neugier des Mädchens.
„Nein.“
„Von wem dann?“
Claire fühlte sich ertappt.
„Von einem wirklich bösen Menschen“, antwortete sie.
Das Mädchen rannte weg.
Claire war ehrlich gewesen. Sie musste es sein. Jede ihrer Lügen war streng bestraft worden. Immer.
Claire begriff langsam, dass es schwierig werden würde, unbeschwert zu leben. Sie begriff, wie wenig sie eigentlich vom Leben hier draußen wusste. Dennoch blieb sie fest entschlossen.
„Jetzt oder nie“, ermutigte sie sich selbst.
Beherzt ging sie dem Mädchen nach.