Das erste Mal im Westen – Rosa oder Weiß?

Das erste Mal im Westen – Rosa oder Weiß?

3. Oktober 2020 0 Von anna

Es war im November 1989 und ich war sieben Jahre alt, als ich in Schuhgröße 29 zum ersten Mal auf westdeutschen Boden lief. Mit Vater, Mutter und meinen drei Geschwistern (3, 9 und 13) fuhren wir mit dem Bus ins kaum 25 Kilometer entfernte Goslar – der Westen. Die Busse waren voll mit Menschen, die kaum am Goslarer Bahnhof angekommen, ihre Körper schon gegen die noch geschlossene Bustür drückten. Wie Ameisen auf einer Zuckerspur strömte die Masse in dieselbe Richtung – zum Begrüßungsgeld. 100 Westdeutsche Mark. Auch mein Vater wurde unweigerlich zur Ameise, während Mutti mit uns Kindern auf dem Bürgersteig gegenüber wartete. Den Kleinen in der Kiepe, mich an der linken und meinen älteren Bruder an der rechten Hand, meine Schwester in Sichtweite. Mit einer Körpergröße von etwas über einem Meter sah ich vom mir so lange verwehrten Westen zunächst nur lauter Hintern und Beine. Ob ost- oder westdeutsch, wusste ich nicht. Po um Po zog an mir vorbei. Dann kam endlich mein Vater wieder – mit unserem Begrüßungsgeld: Guten Tag Westen. Hallo mein erstes westdeutsches Kaufhaus.

Jeder von uns vier Kindern durfte sich Spielsachen aussuchen. Mich zogen die Plüschtiere in ihren Bann. Hatte ich doch erst acht davon zuhause in meinem Bett. Eine scheinbar endlose Regalreihe von sitzenden Teddybären in Weiß und Rosa schritt ich mit großen Augen und ehrfürchtig an der Hand meines Vaters entlang. So viele Kuschelbären. Und ich musste den einen finden, der zu dem Namen gehörte, den ich bereits ausgesucht hatte: Katrinchen. Weiß oder Rosa? Rosa oder Weiß?

Rosa musste Katrinchen sein und nach genauer Analyse von Ohren, Augen und Nase hatte ich MEIN Katrinchen gefunden. Und Geld war wohl auch noch etwas übrig. Ich durfte mir noch etwas aussuchen. Mein Blick richtete sich in Richtung der Spieluhren. Natürlich hatte ich auch davon bereits eine zu Hause. Eine große Blume aus Holz, die mit lachendem Gesicht „Alle Vögel sind schon da“ erklingen ließ, wenn ich an der Schnur zog, bis es knackste. Aber nun wollte ich unbedingt den rosa Hasen haben, der nicht nur Musik ertönen ließ, wenn ich an der Schnur zog, bis es knackste, sondern auch mit den Ohren wackelte und mit den Augen rollte. Ich bekam ihn. Tschüss Kaufhaus. Auf Wiedersehen Westen.

Mehr weiß ich nicht von diesem ersten Tag im Westen. Für mich ist es eine aufregende und schöne Erinnerung.

Noch immer – 31 Jahre später – habe ich Teddybär und beide Spieluhren. Mit Katrinchen kuschelt mittlerweile meine Tochter. Die Hasenspieluhr liegt müde im Schrank. Die Melodie leiert, ist kaum noch zu erkennen. Nur noch langsam und ruckartig bewegen sich die Ohren. Aus den rollenden Augen ist ein gelangweiltes Augenverdrehen geworden und jedes Mal denke ich: „Jetzt bleiben sie stehen.“

Die ostdeutsche klingende Blume hingegen hängt dekorativ an einer Wand im Kinderzimmer. Etwas Farbe ist abgeplatzt. Doch wenn ich an der Schnur ziehe bis es knackst, spielt sie mir noch immer: „Alle Vögel sind schon da“.

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