
Der Lieblingsduft (2)
Sehnsüchtig sieht Veronika aus dem Fenster des Zimmers der alten Dame im Hospiz. Die Sonne scheint. Keine Spur von Regen. Sie beugt sich über das schlafende Gesicht und küsst flüchtig die weiche Stirn.
„Ich komme wieder. Versprochen“, flüstert sie.
Die Türklinke in der Hand dreht sie sich noch einmal um und lächelt.
„Danke.“
In diesem Moment klopft es an der Zimmertür. Veronika fährt erschrocken herum und antwortet reflexartig:
„Herein“.
Zaghaft öffnet ein junger Mann die Tür und sieht Veronika verblüfft an.
„Guten Tag, ich wollte nicht stören. Ich kann später wiederkommen“, sagt er und bleibt zwischen Tür und Rahmen stehen.
Seine bernsteinfarbenen Augen funkeln Veronika herausfordernd an. Verlegen weicht sie seinen Blicken aus und umklammert den Türgriff noch fester mit ihrer linken Hand. Diesen Mann hat sie noch nie gesehen. Daran würde sie sich erinnern. Nervös streicht sie sich mit der rechten Hand eine lange blonde Haarsträhne hinter das Ohr und macht einen Schritt nach hinten, sodass sich die Tür öffnet. Der junge Mann tritt ein und steht nun genau vor ihr. Schlank, groß, männlich. Sekundenlang sehen sie sich tief in die Augen. Veronika spürt ihren Puls wie er immer schneller wird. Bevor sie errötet bricht sie das Schweigen.
„Ich bin Veronika. Und ich wollte gerade gehen.“
„Ich heiße Konstantin. Und ich fände es schön, wenn du noch bleibst.“
„Hast du dich vielleicht im Zimmer geirrt?“
„Bestimmt nicht. Warum fragst du?“
„Diese alte Dame bekommt sonst keinen Besuch.“
„Niemand besucht sie?“
„Niemand.“
„Aber du bist doch hier.“
„Ich bin nur zufällig hier. Mein Großvater lag hier in diesem Zimmer. Ich wollte mich noch einmal verabschieden.“
„Das will ich auch.“
Überrascht sieht Veronika erst Konstantin und dann die alte Dame an. Ein Paar trübe graublaue Augen blicken sie freundlich an. Der Blick der alten Dame wandert zu Konstantin. Sie öffnet die Lippen, um etwas zu sagen. Doch es kommt kein Ton heraus. Konstantin greift nach Veronikas Hand und zieht sie daran mit zum Bett. Er beugt sich vor und hält sein Ohr ganz nah an das Gesicht der alten Dame. Veronika hört das leise Flüstern, versteht jedoch nichts. Sie spürt wie aufgeregt Konstantin ist. Seine Hand ist kühl, obwohl es heute ein besonders heißer Sommertag ist. Sie drückt sie fester, um ihm beizustehen. Seine Hand erwärmt sich nach einiger Zeit. Ganz weich und angenehm fühlt sie sich an. Veronika betrachtet ihre Hand wie sie in seiner liegt und umgekehrt. Es fühlt sich so gut an. So nah und wirklich, obwohl sie sich erst so kurz kennen, empfindet sie ein intensives Gefühl der Verbundenheit zu ihm.
Nach ein paar Minuten setzt sich Konstantin auf den Stuhl am Bett. Noch immer hält er Veronikas Hand. Flehend sieht er sie an.
„Kannst du bleiben?“, fragt er.
Ohne zu zögern, nickt Veronika und setzt sich ans Fußende des Bettes. Die alte Dame lächelt sie an. Genauso hatte sie sich das Gesicht der alten Dame vorgestellt. Zufrieden und entspannt liegt sie da und blickt langsam zwischen den beiden hin und her, bis sich ihre Augen wieder schließen. Kaum hörbar atmet sie weiter.
Schweigend sitzen Konstantin und Veronika eine halbe Stunde lang am Bett der alten Dame. Beide in ihren eigenen Gedanken versunken.
„Was hat sie dir geflüstert?“, fragt Veronika letztlich.
Konstantin streicht ihr mit seinem Daumen über den Handrücken während er ihre Hand weiter festhält. Ohne seinen Blick von der alten Dame abzuwenden. Stille.
„Und woher kennst du sie?“, fragt Veronika weiter.
Sie spürt wie seine Hand wieder kühler wird. Langsam hebt er seinen Kopf und blickt sie mit traurigen Augen an.
„Ich weiß noch nicht, ob ich dir diese Geschichte erzählen möchte. Ich kenne dich ja kaum. Auch wenn Tilda sagt, dass du ein sehr liebenswerter Mensch bist.“ Konstantin lächelt.
Erstaunt zieht Veronika ihre Augenbrauen hoch.
„Das hat sie gesagt? Sie hat mich also doch bemerkt. Und ich dachte sie schläft zu tief, um mich zu hören“, wundert sich Veronika und beschließt mit der Fragerei aufzuhören.
Eine weitere Stunde vergeht. Da klopft es erneut an der Tür und die Pflegerin kommt herein. Erschrocken lösen die beiden ihre Hände voneinander.
„Ich wollte nur sehen, ob sie noch etwas brauchen. Meine Schicht ist gleich vorbei“, sagt sie.
Synchron schütteln Veronika und Konstantin die Köpfe. Die Pflegerin nickt und lächelt. Lautlos schließt sie die Tür.
„Ich werde jetzt auch gehen“, sagt Konstantin plötzlich.
Veronika sieht ihn enttäuscht an. Konstantin bleibt das nicht verborgen.
„Es ist schon bald Abend und ich habe noch keine Unterkunft für die Nacht“, erklärt er.
Erleichtert lächelt Veronika ihn an.
„Morgen werde ich Tilda wieder besuchen und …“, Konstantin zögert, „…und vielleicht bist du dann auch hier?“
Beschwingt hüpft Veronika vom Bett und greift langsam nach seiner Hand.
„Komm, lass uns gemeinsam gehen“, sagt sie selbstbewusst und Konstantin nickt zustimmend.
„Es hat angefangen zu regnen“, bemerkt er und sieht sehnsüchtig aus dem Fenster. „Ich liebe diesen Geruch von Regen nach einem heißen Sommertag. Und was ist dein Lieblingsduft?“
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