Flitzpiepen in der S-Bahn

Flitzpiepen in der S-Bahn

3. Juni 2020 0 Von anna

„Nun komm schon, Chrissi. Willst du jetzt ewig rumheulen?“, fragt Torsten seinen Freund und stimmt in den Gesang der übrigen Fußballfans von Alemannia Aachen ein: „Und Aachen wird nie untergehen“, krakeelt er, unterwegs in der Berliner S-Bahn von Köpenick Richtung Hauptbahnhof. Chrissi rinnen dicke Tränen über die Wangen. Seine Augen sind rot. Wie ein Häufchen Elend sieht er aus. Zusammengesunken sitzt er auf seinem Platz, schüttelt den Kopf – fassungslos über die 0:2 Niederlage seiner geliebten Elf gegen den 1. FC Union Berlin. „Wie konnte das nur passieren?“, denkt er. „Meine Jungs gegen diese Fußkranken.“ Seine Kumpels Torsten, Alex und Maik feiern trotzdem. Schwankend im Rhythmus der S-Bahn. Grölend im Takt ihrer eigenen Lieder. Torsten öffnet eine Flasche Bier, hält sie Chrissi vors Gesicht und sagt: „Nimm, Alter. Alles nicht so wild. Spül die Trauer runter. Beim nächsten Spiel machen wir sie platt.“ Chrissi trocknet sich mit seinem schwarz-gelben Trikot das Gesicht, greift zu und macht die Flasche leer – auf Ex. Damit verdient er sich das respektvolle Nicken seiner Freunde, obwohl ihm die Hälfte schäumend aus dem Mund über den Hals aufs Trikot schwappt. Dass es Berliner Bier ist, stört keinen der Männer aus Aachen. Fußball ist ihr Sport. Alemannia ihre Mannschaft. „Wir sind treu bis in den Tod“, singt Chrissi nun mit den anderen und öffnet noch eine Flasche Pils.

Ein paar Sitzreihen entfernt, am nächsten Ausgang, hält sich ein kleines blondes Mädchen die Ohren zu. Sie kann nicht begreifen, warum die Männer in einem Moment weinen und im anderen schon wieder lachen. Und das schrecklich laute Gebrüll tut ihr wohl in den Ohren weh. Ängstlich blicken die weit aufgerissenen braunen Augen Torsten an, doch der stimmt immer wieder neue Lieder an. Lauter. Lallender. Taumelnder. Das Mädchen sitzt im viel zu kleinen Kinderwagen ihrer jüngeren Schwester. Der ungefähr drei Monate alte Säugling hängt wohlbehütet in einem großen Tragetuch, dass sich die Mutter vor den Bauch gebunden hat. Behutsam hält sie mit der linken Hand das Köpfchen ihres Babys, bedeckt dabei die winzigen Ohren. Mit der rechten Hand hält sie sich am Kinderwagen fest. Besorgt sieht sie ihre große Tochter an und studiert den Fahrplan. „Noch vier Stationen, dann steigen wir aus. Alles ist gut“, flüstert sie. Doch Torsten und seine Freunde übertönen alles.

Im selben Wagon sind auch zwei Union-Berlin-Fans. Tom und Nils sind begeistert vom Männersport. Und vom Bier, das bei jedem Spiel fließen muss. „Eins für jeden unserer Super-Spieler“, sagt Nils immer und Tom erwidert jedes Mal: „Und beim Sieg verdoppeln wir.“ Deshalb haben sie auch noch jeder einen Becher aus dem Stadion an der Alten Försterei in der Hand. Bremst die S-Bahn an einer Haltestelle, kleckert etwas auf den Boden.

Nils versucht heimlich den Rauhaardackel einer sehr dicken Dame für sein Bier zu begeistern. Vergeblich. Da zieht Tom aus seiner linken Hosentasche einen giftgrünen Flummi. Doch als er sich zum Hund beugen will, bremst die S-Bahn, Tom verliert das Gleichgewicht, fällt der Länge nach auf den Boden und der kleine Ball hopst aus der Tür hinaus auf den Bahnsteig. Der Hund kläfft ihm aufgeregt hinterher. „Ick jeb dir jleich eene in dein Backfeifenjesichte“, brüllt die korpulente Frau Tom an und steigt wütend aus. „Flitzpiepe.“ Das Schimpfen verstummt erst, als sich die Tür schließt.

„Ich würde ja mit euch Anstoßen, aber ihr habt ja kein Bier“, feixt Torsten. Gehässig grinsend winkt er Nils und Tom zu, die bei ihrem Streich alles verschüttet haben. Die rot-weißen Trikots sind klitschnass. „Lass uns die Nächste Aussteigen und Nachschub besorgen“, flüstert Tom und reibt sich die schmerzenden Knie.

Zwei etwa sechzehnjährige Jungs bekommen vom ganzen Trubel nichts mit. Sie haben nur ein Thema, das sie heftig diskutieren: Ein Mitschüler, der erst in diesem Schuljahr aus Hamburg zu ihnen in die Klasse gewechselt ist, schleppt alle Mädels ab. „Wie macht er das nur?“, fragen sie sich. Neulich in der Disko habe man ihn gesehen, wie er ein Mädel angetanzt hat, obwohl die mit einem anderen Typen da war. „Das ist so krass“, sind sich beide Jungs einig. „Voll schamlos.“ Die elektronische Frauenstimme der Berliner S-Bahn unterbricht ihr Gespräch und kündigt den Alexanderplatz als nächsten Halt an. Endlich steigen die Fußballfans aus.

Chrissi stolpert auf dem Weg zur Tür über die Füße der beiden Jungs, verliert aber nur kurz das Gleichgewicht. „Alles unter Kontrolle“, sagt er und grinst ziemlich breit. „Viel Spaß noch“, ruft ihm einer der Sechzehnjährigen frech hinterher. Keine Antwort. Die Männer sind damit beschäftigt Torsten wieder auf die Füße zu helfen. Beim Aussteigen hat er die Lücke zwischen Bahn und Steig übersehen und hängt nun mit seinem rechten Bein fest. Alex und Maik zerren kräftig an Torstens Trikot, Chrissi schiebt von hinten. Und da ist es passiert. Der Stoff ist gerissen und zum Vorschein kommt Torstens dicker, kahler Bierbauch. Und damit nicht genug: Seine Jeans ist beim Schieben nach unten gerutscht und in einem strahlenden Weiß ist sein Po bis zur Hälfte für alle Fahrgäste im Wagon zu erkennen. Diesmal brüllen die beiden Jungs vor Lachen. Erleichtert küsst die Mutter ihr Baby auf die Stirn und stimmt in das Gelächter ein. Das Mädchen im viel zu kleinen Kinderwagen nimmt die Hände von den Ohren und kichert fröhlich.

Ähnlichkeiten zu realen Personen sind rein zufällig.

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